«Die Eishockey-Legende der Woche»: Marcel Jennis Tore standen 1998 am Anfang des Aufschwungs der Nationalmannschaft – heute ist er selber Nationalcoach
Der Effretiker Marcel Jenni rebellierte als junger Profi in Lugano gegen den Trainer, reifte danach jahrelang in Schweden und kehrte als Führungsspieler in die Schweiz nach Kloten zurück. Derzeit coacht er die U-18-Nationalmannschaft an der Weltmeisterschaft.
Marcel Jenni erlebt gerade einen weiteren Höhepunkt in seiner Karriere: er coacht derzeit die U-18-Nationalmannschaft an der Weltmeisterschaft in Plano, Texas. Die erste Partie gegen Lettland gewann sein Team, die zweite gegen Weissrussland ging deutlich verloren. Auch den Schweden unterliegen die Schweizer trotz 1:0-Führung nach drei Gegentoren in fünfminütiger Unterzahl mit 1:3. In der Nacht auf Samstag steht gegen Kanada das vierte und letzte Vorrundenspielen auf dem Programm. Verlieren die Schweizer wie erwartet, schliessen sie die Vorrunde im vierten Rang ab und stehen dank dem Auftaktsieg gegen Lettland im Viertelfinal, wie es sich bereits im Verlauf der Vorrunde herausstellte.
Jenni wusste schon lange, dass er einst Trainer werden will. Gegen Ende seiner Spielerkarriere hat er die nötigen Ausbildungen absolviert. Das Thema seiner Diplomarbeit hiess «Individuelles Devensivverhalten». Eingestiegen ins Coaching ist er 2016 als Assistent beim Swiss-League-Team EVZ Academy, danach führte er drei Jahre lang die Zuger U-17-Mannschaft, 2019 gar bis zum Meistertitel. Seit letztem Sommer ist er beim Verband für die U-18-Auswahl tätig.
Legendäre Tore an der Heim-WM 1998
Der 47-Jährige verfügt über eine immense Erfahrung als Spieler mit 1081 Meisterschaftsspielen auf höchster Ebene in der Schweiz und Schweden. In seiner 23 Jahre langen Karriere hat er zudem zwei Meistertitel gewonnen – 1999 mit Lugano und 2002 mit Färjestad BK – sowie 196 Länderspiele absolviert.
Es war auch ein Länderspiel, das Jenni in der breiteren Öffentlichkeit bekannt machte. An der Heim-WM 1998 erzielte er im Vorrundenspiel gegen Frankreich zwei späte Tore, dank deren die Schweiz im Turnier verblieb. Dieses WM-Spiel im Hallenstadion löste in der Folge eine regelrechte Euphorie um das Nationalteam. Die Schweiz beendete die erste WM unter dem neuen Nationalcoach Ralph Krueger auf dem vierten Rang – bis zur Silbermedaille 2013 die beste Klassierung. Es war der Beginn jener Zeit, in welcher sich die Schweiz bis heute dauerhaft in den Top-8-Nationen der Welt hat etablieren können.
Vor einem Jahr blickte Jenni auf die WM 1998 zurück und sagte: «Solche Emotionen wie dort hatte ich danach in der Nationalmannschaft nie mehr.» Jenni hat sieben Weltmeisterschaften und zwei Olympische Spiele bestritten. Berühmt die Anekdote an Olympia 2002 in Salt Lake City, als er zusammen mit Reto von Arx heimgeschickt wurde, weil die beiden unerlaubterweise im Ausgang gewesen waren.
Als junger Profi ist Jenni oft angeeckt bei seinen Trainern. Mit 16 hatte er bei GC in der 1. Liga debütiert. Er war talentiert, hatte viel Biss. «Am Abend musste man ihn mit dem Lasso vom Feld holen», erinnerte sich sei damaliger Trainer Bruno Aegerter in der NZZ. Jennis Leidenschaft fürs Eishockey war extrem, Niederlagen waren für ihn wie ein kleiner Tod. Im Eishockey fand er stets Bestätigung, nicht in der Schule.
Manchmal zerfrass ihn die Leidenschaft fast. Nach seinem Wechsel nach Lugano als 19-Jähriger suchte er zunehmend Ablenkung und Ausgleich im Nachtleben. Oft übernahm er sich im Training, wollte zu schnell und zu viel. Die Freude am Eishockey kam ihm da fast abhanden, auch weil er sich mit dem Trainer Jim Koleff zerstritt. Einmal prügelte er sich gar im Training mit einem Teamkollegen.
Als Führungsspieler von Schweden nach Kloten
Der Wechsel 2000 mitten in der Saison nach Schweden zu Färjestad BK war Befreiungsschlag und Kulturschock zugleich. In Schweden reifte Jenni vom launischen Einzelkämpfer zum seriösen Teamplayer. Die schwedische Kultur behagte ihm. In der NZZ schwärmte er einst: «Dort fokussiert man auf die Stärken und reitet nicht auf den Schwächen herum.» Jenni gehörte in Schweden in jener Zeit zu den besten Spielern der Liga; mit Färjestad erreichte er fünfmal den Final, gewann den Titel allerdings nur einmal.
Als er 2005 in die Schweiz zurückkehrte, erhielten die Kloten Flyers einen gereiften Führungsspieler für alle Situationen. Zehn Jahre lang trug Jenni das Klotener Dress und versorgte sein Team auf dem Eis mit Energie und bedingungslosem Einsatz. Er war einer der wenigen Klotenern, die jedem Gegner unter die Haut fahren konnten, gab keinen Puck verloren und verzückte das Publikum mit seinen typischen Richtungswechseln. Bald schon skandierten die Fans jedes Mal wenn sein Name im Stadion ausgerufen wurde: «Hockey-Gott!».
Dann folgte eine dunkle Zeit. Im Oktober 2014 prallte der damals 40-Jährige bei einem Spiel in Lugano kopfvoran in die Bande. Die resultierende Hirnerschütterung und die Bandscheibenverletzung plagten ihn noch über ein Jahr später auch im zivilen Leben. Mit viel innerer mentalen Arbeit bewahrte er sich dennoch seine Lebensfreude. Der einst ungestüme Wilde musste Geduld lernen.
Jetzt fühlt er sich an der Bande der U-18-Nationalmannschaft sehr wohl, die Leidenschaft ist geblieben und auch sein grosser Ehrgeiz. Er sagt: «Ich bin ein fordernder Coach, aber auch fair.» Er hat dank seiner Vita auch viel Verständnis für junge Spieler, die er gerne auf ihrem Weg begleitet. «Die Erfahrungen müssen sie aber selber machen.»
Quelle: Yves Tardent/NZZ